„Poised“, 7. Juli – 23. Sept. 2010, Stadtbücherei Würzburg

Liebe Freundinnen und Freunde der Kunst, liebe Anja,
liebe Jutta, lieber Joschka,

zur Eröffnung der Ausstellung „poised“ von Jutta Schmitt begrüße ich Sie und Euch alle sehr herzlich.

Der englische Begriff „Poised“, den sie als Titel gewählt hat, bedeutet „selbstsicher, im Gleichgewicht, schwebend“ und passt gut zu ihrer Kunst, aber auch zu ihr selbst. Sie schwebt selbstsicher durch die Welt zwischen der Mongolei und ihrem Garten in Geroldshausen, wo sie lebt und arbeitet, zwischen der Kunstszene und der Familie, zwischen dem tibetischen Buddhismus und der Entwicklung neuer Stücke für das Theater Hobbit, das von ihrem Mann Bernd Kreußer 1976 gegründet wurde und das sie gemeinsam betreiben.

Bereits ihre Diplomarbeit nach dem Grafik-Design-Studium an der Fachhochschule Würzburg war ein „Gesamtkunstwerk“, eine Theateraufführung mit eigenem Bühnenbild, selbst konstruierten Puppen und druckgrafischen Arbeiten. Die Professoren waren perplex – und die Prüfungsordnung wurde geändert.

Als sie nach freier künstlerischer Arbeit und rund 10 Jahren internationaler Theatertourneen mit Bernd Kreußer schwanger wurde, fing ein neuer Lebensabschnitt für sie an, auf den sie nicht vorbereitet war. Sie wollte in ihrem Leben weder auf eigene Kinder, noch auf ihre künstlerische Tätigkeit verzichten und suchte nach einem Weg, beides schöpferisch miteinander zu verbinden. Sie begann, als ihr 1983 geborener Sohn 9 Monate alt war, täglich mit ihm auf einem Blatt gemeinsam gestisch zu zeichnen und hat dies als kommunikativen Prozess begriffen.

Zuvor hatte sie sich mit Pastellzeichnung beschäftigt, diese aber als statisch empfunden. Durch die gemeinsame Arbeit mit ihrem Kind kam Bewegung ins Spiel – eine große Bereicherung für sie und positive Neuorientierung. Später – 1985 wurde ihre Tochter geboren – ging sie dazu über, die Zeichnungen ihrer Kinder zu sammeln und in einem nächsten Schritt weiterzuverarbeiten. Sie begriff sich nicht mehr als „Einzelkämpferin“, sondern als Teil ihrer im selben Jahr gegründeten „schmittgruppe 31“, die nun seit 25 Jahren besteht. 1988 trat sie mit einer Ausstellung unter dem Titel „Ich bin eine Gruppe“ erstmals an die Öffentlichkeit. Inzwischen ist die Liste ihrer Präsentationen im In- und Ausland lang. Den hier gezeigten Arbeiten (mit Ausnahme der Serie „Knochenorakel“) liegen Zeichnungen ihrer eigenen und mongolischer Kinder („Spanisch mongolian“ und „Brückenschlagen“ von 2002) zugrunde.

Auch in der Vergangenheit empfingen Künstlerinnen und Künstler Anregungen von kindlicher Kreativität: In dem 1912 von Kandinsky und Marc herausgegeben Almanach des Blauen Reiter sind Kinderzeichnungen abgebildet und es ist von „feinen Verbindungsfäden mit der so ausdrucksstarken ursprünglichen Volkskunst und Kinderkunst“ die Rede. Gabriele Münter sammelte ebenfalls Kinderzeichnungen und ließ sie in die Entwicklung ihrer Formensprache einfließen. Oder man denke an die Surrealisten, die die „Kindheit der Kunst“ wiedergewinnen wollten. 1924 schrieb André Breton in seinem ersten surrealistischen Manifest, von der Kindheit gehe „ein Gefühl der völligen Ungebundenheit aus“. Jean Dubuffet ließ sich insbesondere in seinem Frühwerk von kindlichem Bildvokabular anregen. Die von Jutta Schmitt sehr geschätzte Künstlerin Louise Bourgeois äußerte 2005 in einem Interview: „Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten der letzten 70 Jahre ist in meiner Kindheit zu suchen. Meine Kindheit hat nie ihre magische Kraft, nie ihr geheimnisvolles Dunkel, nie ihre Dramatik verloren“.

Bis heute schöpft Jutta Schmitt aus dem reichhaltigen Fundus der Zeichnungen ihrer Kinder, die sie entweder aus der Schublade holt oder ihrem jüngsten Sohn „abluchst“. Sie komponiert und kombiniert aus diesen Zeichnungen Neues, fügt auch Eigenes hinzu. Die Formen verändern sich durch die Umsetzung in den Linolschnitt. Lineares wird flächig, Flächiges wird linear. Die kindlichen Formen erfahren Verfremdungen, werden zu rätselhaften Chiffren, die mehrere Lesarten zulassen. Mal geben die Titel Deutungshinweise, mal nicht, aber nie sind der Phantasie des Betrachters Grenzen gesetzt. Man kann Figürliches darin sehen oder ein abstraktes Spiel spannungsreicher Kontraste. Mir gefällt besonders auch die Dynamik, die durch die freie Anordnung der kraftvollen Formen entsteht.

Bei der Arbeit „Brückenschlagen“ kann, wer mag, eine Brücke erkennen und einige Figuren, die heiter darübertänzeln, mehr schwebend als mit Bodenhaftung – oder sind es doch keine Figuren, sondern freie abstrakte Gebilde?

Bei dem Linolschnitt „Rübezahl“ denke ich an einen riesigen Krieger, der mit Siebenmeilenstiefeln so schwungvoll läuft, dass Teile seiner Rüstung zerbersten und davonfliegen – vielleicht sehen Sie ja etwas völlig Anderes darin, haben ganz andere Assoziationen.

Der „Luftikus“ trägt anstelle des Kopfes ein Gebilde lose ineinander verschlungener Kurvaturen – ob die frei im Raum treibenden Fragmente seine Hirngespinste sein könnten? Ist es eine heitere Gestalt oder ein trauriges Wesen? Jede Betrachterin, jeder Betrachter wird dies anders empfinden.

Im Juni 2008 reiste sie zum ersten Frauenmuseumskongress. Ihr Sohn Joschka begleitete sie und porträtierte die Anwesenden in Wachsfarben. Seine Zeichnungen liegen den hier ausgestellten Linolschnitten auf Seide zugrunde. Die Kuben verleihen jedem Porträt einen eigenen Bildraum. Deutlich sind die Leiterin des Frauenmuseums Bonn, Marianne Pitzen und die Künstlerin selbst zu erkennen. Gemeinsam mit ihr war sie 1999 im Rahmen eines Kulturaustausches zwischen Bonn und Ulaanbaatar in die Mongolei gereist, im 7. Monat schwanger. Demnächst reisen die beiden, Jutta Schmitt und ihr Sohn, wieder dorthin. In der Galerie der Union of Mongolian Artists wird sie Anfang August ihre Werke in einer Ausstellung zeigen.

Mit den Linolschnitten aus der Serie „Knochenorakel“ ist sie gedanklich schon halb dort. Zu sehen sind Konstellation von kleinen Knochen, mit denen in der Mongolei gespielt wird: Es werden jeweils vier Knochen geworfen, deren verschiedene Positionen Schaf, Ziege, Pferd oder Kamel sein sollen, woraus dann wieder eine Deutung gelesen wird, die Sie jeweils im Titel erfahren. Jutta hat eine starke Affinität zu Knochen. Sie verarbeitet sie auch zu zauberhaften Puppen oder zu Mobiles und lässt sie auf diese Weise eine „Wiederbelebung“ erfahren.

Einer der bekanntesten Erzähler der Mongolei ist Lodongijn Tüdew, 1935 als Sohn einer Viehhüterfamilie geboren. Er hat es zu hohen politischen und kulturpolitischen Ämtern gebracht und war 1993 sogar Präsidentschaftskandidat. In seinem Episodenband „Bekanntschaft mit der Welt“ von 1970 (dt. Ausgabe Leipzig 1982) greift er auf eigene Kindheitserlebnisse zurück und verbindet alte mongolische Erzählkunst mit neuen literarischen Formen. Ein Kapitel lautet „Bekanntschaft mit dem Zeichnen“. Darin beschreibt er, wie er als Kind in seiner Jurte auf einem Brett, das seine Mutter zum Trocknen des Milchrahms verwendet, Kuhdungasche verteilt und darauf Jakbullen (tibetische Grunzochsen) zeichnet. Eine Tante ohrfeigt ihn erst dafür und lacht dann, bis ihr die Tränen an den Wangen herunterfließen. Von da an zeichnet er eine Weile in feuchten Uferlehm, in den Sand am Fluss oder in den Schnee. Beim nächsten Versuch, etwas Dauerhaftes zu schaffen, für die Zeichnung einer Schlange auf den Deel, das mantelartige Gewand eines alten Mannes namens Jöchöömjangan, erhält er wiederum ein paar mächtige Maulschellen, weil dieser nichts so sehr fürchtet wie Schlangen, ebenso von seiner Großmutter, weil er sie zeichnete wie sie war, was diese aus der Haut fahren ließ.

Diese und noch weitere schöne Episoden mögen Jutta Schmitt und ihrem Sohn Joschka die Reise in die Mongolei etwas verkürzen – und ihre Kunst mag dort sicher auf positivere Resonanz stoßen, als es dem Erzähler Tüdew vergönnt war.

Den beiden wünsche ich eine eindrucksvolle und erlebnisreiche Reise und Ihnen viel Freude beim Betrachten der Ausstellung.



Carola Schneider
6.7.2010